Der folgende Text bezieht sich auf zwei inspirierende Fortbildungen bei Christine Longaker („Selbstmitgefühl - Eine heldenhafte Reise zu Mut, Liebe und Freundschaft“) und R. Sriram („Yoga-Hilfe zur Selbstheilung“).
1. Sich Frei-Räume schaffen
Der Mensch ist sowohl ein Einzelwesen (Individuum) mit einem Bedürfnis nach Ruhe und Stille, als auch ein Sozialwesen, das den Kontakt zur Gemeinschaft sucht. Für das körperliche und seelische Wohlbefinden sollte immer beiden Anteilen Aufmerksamkeit geschenkt und diese in ein Gleichgewicht gebracht werden. Im Idealfall leiten natürliche Instinkte ein gesundheitsförderndes Verhalten, doch untergräbt die moderne Lebensweise den Zugang zu unserem inneren Wissen. Deswegen sollten wir uns stets daran erinnern, dass wir durch einen bewussten Umgang mit dem Körper und dem Geist Verantwortung für das eigene Wohlbefinden übernehmen können. Doch dürfen wir dabei nicht erwarten, Krankheiten grundsätzlich verhindern zu können. Erkrankungen entstehen auf psychischer und physischer Ebene und gehören zum Leben. Dennoch bedeutet krank zu sein nicht zwangsläufig darunter leiden zu müssen.
2. Über den Raum hinaus denken
Alle leidvollen Erfahrungen und somit auch der Zustand von Krankheit, zeichnen sich aus durch unangenehme Empfindungen wie Schmerz oder Enge. Diese Situation lässt sich mit einem Gefängnis (Enge, Beklemmung) oder mit einem aufziehenden Unwetter (Angst, Bedrohung, Dunkelheit) vergleichen. Weil sich die Perspektive durch negative Gedanken und Gefühle stark auf einen Ausschnitt („Ich bin krank!“) verengt, wird dadurch oft ausgeblendet, dass der vorherige Alltag trotz der Belastungssituation nach wie vor existiert. Diese extrem eingeschränkte Sichtweise wird in der Yoga-Philosophie Avidya („Unwissenheit“) genannt und kann als Form von Leid durch Täuschungen oder Irrtümer umschrieben werden, zum Beispiel eine Identifikation mit dem Schmerz („Meine Rückenschmerzen bringen mich um den Verstand!“). Eine grundlegende Aussage im Yoga-Sutra von Patanjali ist die Annahme, dass vorhandenes Leid zwar nicht rückgängig gemacht, sehr wohl aber zukünftiges Leid in Form von selbsterschaffenen Problemen verhindert werden kann.
3. Dem Mitgefühl Raum geben
Wir können durch achtsame Wahrnehmung der Gegenwart unsere innere Haltung verändern und einen angemessenen Umgang mit schmerzvollen Erlebnissen entwickeln. Begegnen wir einer unangenehmen Situation mit Widerstand und Abwehr, verschlimmert sich der Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit. Können wir dem Schmerz jedoch mit freundlicher Akzeptanz begegnen und uns selber Mitgefühl entgegenbringen, eröffnet sich möglicherweise ein Raum für Heilung. Im Yoga-Sutra wird Krankheit als ein großes Hindernis auf dem spirituellen Weg gesehen, denn Schmerzen und Unwohlsein können den Geist ungemein aus der Ruhe bringen. Dennoch sollte der Leidenszustand weder überbewertet noch bekämpft werden, denn er liefert einen wichtigen Hinweis auf eine Störung im psychisch-physischen System. Durch ein geduldiges und neutrales Beobachten der Situation („Da sind schmerzhafte Empfindungen im unteren Rücken.“) können wir mögliche Auslöser von Leid und Stress erkennen und dementsprechend positive Veränderungen unseres Alltagsverhaltens vornehmen.
4. Die Komfortzone verlassen
Mitunter ist es jedoch ein Problem, schonungslos und ehrlich sich selbst gegenüber zu sein und sich das erfahrene Leid ohne Über- und Untertreibung einzugestehen. Oft gibt es eine innere Stimme in uns, die gerade dann besonders unfreundlich ist, wenn wir uns so richtig schlecht fühlen. Daher nutzen wir in solchen Momenten verschiedene Ausweichstrategien anstatt uns selber Mitgefühl zu schenken. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass die Abwehrmechanismen zu diesem Zeitpunkt oft berechtigt sind, denn die innere Stimme hat eine Schutzfunktion, die uns bei der akuten Bewältigung negativer Erfahrungen unterstützen soll. Allerdings können sich langfristig Muster bilden, die nach außen gekehrt in Form von Schuldzuweisungen („Die Welt hat Schuld/Ich bin Schuld an meinen Rückenschmerzen“) oder Ablenkung durch vermeintliche Nächstenliebe („Ich kümmere mich um alle Probleme auf der Welt“) auftreten und zu weiterem Schmerz und Leid führen. Das Unterbrechen einer solchen Kette erfordert eine Kontaktherstellung zu den eigenen, oftmals sehr unangenehmen Gefühlen. Das Verlassen der Komfortzone erfordert den Mut, sich der eigenen Verletzlichkeit und Unvollkommenheit bewusst zu stellen.
5. Den inneren Schutzraum betreten
In jeder leidvollen Situation können wir uns also darin üben, Achtsamkeit und Mitgefühl zu kultivieren. Gerade im hektischen Alltag ist es wichtig, sich gut um sich zu kümmern, ohne dieses Verhalten als egoistisch zu bewerten. Jeder Mensch kann tief in seinem Inneren spüren, was das eigene Wohlbefinden fördert, denn Selbstheilung und Selbstmitgefühl sind angeborene Fähigkeiten. Yoga und Meditation sind hilfreiche Mittel, um in den Körperbereichen wie Brust- oder Stirnraum Offenheit und Weite zu erzeugen und damit ein Gefühl von Freiheit zu schaffen. Dabei nimmt der Herzraum eine zentrale Rolle für das Wohlbefinden und die Gesundheit ein. Die Konzentration auf den Herzpunkt beruhigt und nährt den Geist mit positiven Qualitäten wie Güte, Sanftheit, Freude oder eben Mitgefühl. Das Yoga-Sutra I.36 lädt dazu ein, sich auf das innere Licht im Herzen zu besinnen, das immer vorhanden ist und unberührt bleibt von Leid. Die Verbindung zum Herzraum hilft uns dabei, das eigene Leid zu erkennen und anzunehmen. Dort sammelt sich auch die Kraft, die es braucht, um dem selbstgebauten Gefängnis wieder zu entkommen. Und jene Zuversicht, die es zu bewahren gilt, wenn sich wieder einmal dunkle Wolken bedrohlich auftürmen.
6. Raum für Selbstheilung
Bei Yoga und Meditation handelt es sich um Lernprozesse, die sich durch besondere physische und mentale Aktivitäten auszeichnen. Eine ausgewogene Mischung von Asana, Pranayama und Meditation fördert körperliche Stabilität und geistige Klarheit. Die ganzheitliche Ausrichtung auf die Steigerung des Wohlbefindens kann auch die Ebene des Bewusstseins erreichen und somit heilsame Vorgänge anregen. Wohlbefinden zeichnet sich auch durch eine innere Haltung aus, die sich aus verschiedenen Qualitäten wie Offenheit, Geduld, Demut, Dankbarkeit oder Gelassenheit zusammensetzt. Denn Selbstheilung und Selbstmitgefühl können nicht einfach „gemacht“ werden. Wir kommen auf körperlicher und geistiger Ebene in Bewegung. Wir gehen bewusst mit freudvollen und schmerzhaften Erfahrungen um. Wir spüren die uns innewohnende Kraft und vertrauen ihr. Wir gestalten aktiv den Alltag und übernehmen Verantwortung für unsere Gesundheit. Wir leben aus ganzem Herzen und lassen Heilung geschehen.
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Heiko Zaenker (Samstag, 22 April 2017 15:37)
Das ist eine schöne Theorie, jedoch liegt Selbstmitgefühl sehr nah am Selbstmitleid. Das macht es in der Praxis schwierig.
Da kann ein Tritt in den eigenen Hintern viel mehr bewirken. Sich so aus dem Gefühl von Schmerz oder Enge herauskicken. Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Das ist kann ein guter Boden für Selbstheilung sein.
Jede leidvollen Situation zu beobachten, verschlimmert es nur. Es fallen mir dann auch immer mehr leidvolle Situationen ein. Selbstheilung durch Selbstmitgefühl geht schnell in die ganz falsche Richtung.